Mein 5-jähriger Sohn zieht Kleider an – so reagieren Andere darauf

BLOG von Katharina H., Mutter von zwei Kindern 

Sein erstes Kleid trug Simon* mit drei Jahren – jetzt ist er fünf. Er stand plötzlich vor mir und fragte mich: “Kannst du mir was nähen, Mama?” Ich habe ihm mein Nähbuch gegeben und gesagt: “Ja klar, suche dir was aus.” Dann habe ich ihm verschiedene Sachen gezeigt – Hosen und Pullover. Als er ein Kleid sah, sagte er: “Das will ich haben. In Lila.” “In Ordnung, du willst das Kleid haben. Ziehst du es dann auch an?”, fragte ich ihn. “Ja, mache ich”, sagte er. Also habe ich Stoff gekauft und ihm das Kleid genäht. Bis heute ist es sein Lieblingskleid.

Mittlerweile habe ich viel darüber nachgedacht, was Geschlecht eigentlich bedeutet. Und ich denke, wir erziehen unsere Kinder zu einem Jungen oder einem Mädchen, weil wir gewisse Verhaltensweisen oder Reaktionen erwarten. Und weil in unseren Köpfen noch alte Rollenbilder festhängen.

Jungs sollen wild sein – und Mädchen ruhig

Jungs wird zugesprochen, dass sie wild sind, dass sie sich auch mal kloppen dürfen, dass sie gut in räumlichem Denken sind. Und von Mädchen wird erwartet, dass sie ruhig und brav sind, gerne lesen und mit Puppen spielen.

Es gibt ein Experiment von der BBC, das zeigt, wie sehr wir in Geschlechterrollen denken und dementsprechend auf Kinder zugehen. Die Wissenschaftler des Experiments tauschten bei kleinen Kindern die Kleidung. Der Junge bekam ein rosa Kleid, das Mädchen eine Hose und ein kariertes blaues Hemd. Dann betraten Probanden den Raum, die mit den Kindern spielen sollten.

Den vermeintlichen Mädchen wurden Puppen und Kuscheltiere gereicht und den vermeintlichen Jungs Bauklötze und Mini-Roboter. Wenn ich einem Kind einen Teddy hinhalte, werden ganz andere Bereiche im Gehirn gefördert, als wenn ich ihm Bauklötze gebe. Da entstehen andere Synapsen. Das zieht sich hin, bis wir erwachsen sind. Wenn Frauen zum Beispiel ehrgeizig und durchsetzungsfähig im Job sind, dann werden sie schnell als herrische Zicke bezeichnet. Bei Männern wird das Durchsetzungsvermögen dann gelobt.

Simon hat inzwischen einige Röcke und Kleider

Mittlerweile haben wir auch eine zweijährige Tochter, sie heißt Anna*. Von meiner Freundin bekomme ich immer wieder die Klamotten ihrer Tochter – viel rosa, Kleider und Rüschen. Simon und Anna durchstöbern dann beide die Sachen und suchen sich etwas aus.

Simon hat inzwischen einige Röcke und Kleider, die er regelmäßig anzieht. Ich fand das von Anfang an in Ordnung. Aber ich hatte ein bisschen Angst, dass er im Kindergarten gemobbt wird. Bei den Erzieherinnen war das gar kein Thema. Die gehen damit super um. Aber die älteren Jungs haben blöd reagiert und gesagt, dass das Mädchenklamotten seien. Daraufhin haben die Erzieherinnen mit den Kindern gesprochen und ihnen erklärt, dass jeder anziehen könne, was er mag.

Er hat auch lange Haare und will sie nicht schneiden lassen. Er lässt sie sich auch nicht zusammenbinden. “Ich brauch den Wind, damit meine Haare fliegen können”, sagt er immer.

Bis zum 10. Lebensjahr bleibt der Hormonspiegel gleich

Manche behaupten, dass die geschlechtsspezifischen Charakterzüge bei Kindern etwas mit ihren unterschiedlichen Hormonspiegeln zu tun haben. Und Jungs wilder seien, weil sie mehr Testosteron im Blut hätten.

Doch Studien zeigen: Bis zum zehnten Lebensjahr bleibt der Hormonspiegel von Kindern gleich. Jungs haben nicht mehr Testosteron als Mädchen. Wenn der Testosteronspiegel bei Kindern jeden Geschlechts genau gleich ist, warum sollten dann Jungs von Natur aus wilder, lauter und aggressiver sein? Und Mädchen ruhiger, einfühlsamer und sensibler?

Diese Eigenschaften sind von Kind zu Kind unterschiedlich. Das hat nichts mit Geschlechtern zu tun. Gegenbeispiele finden sich selbst in meiner Familie einige, meine Mama war viel wilder als ihre drei Brüder zusammen. Auch ich war ein sehr lebhaftes Kind, das ständig auf Bäume kletterte – und auch meine Kinder entsprechen nicht den gängigen Klischees.

“Wir werden nicht zweigeschlechtlich geboren” Wenn ein Kind auf die Welt kommt, ist es einfach nur ein Kind. “Wir werden nicht zweigeschlechtlich geboren”, sagt die bekannte amerikanische Soziologin Carol Hagemann-White. Eine Geschlechtsidentität entwickle sich, indem wir uns mit unserem Umfeld auseinandersetzen, meint sie.

Dennoch ist das Schubladendenken in Bezug auf Geschlechter weit verbreitet. Oft sagen Menschen auf der Straße, dass Simon wie ein Mädchen aussehe. Das ärgerte ihn eine Zeit lang. Ich erklärte ihm dann: “Simon, es ist so. Menschen denken in diesen Kategorien. Wir sehen das anders, aber bei vielen Leuten ist das noch nicht angekommen. Versuche, die Menschen zu ignorieren, oder schneide dir die Haare ab.”

Es gibt auch Bekannte, die es unmöglich finden, dass unser Sohn Mädchenkleidung trägt. Eine Arbeitskollegin meines Mannes fragte ihn einmal auf einer Veranstaltung, wo denn sein Sohn sei. Mein Mann zeigte auf Simon. Daraufhin sagte sie ganz entsetzt: “Aber der hat doch ein Kleid an. Und so lasst ihr ihn rumlaufen?”

Mittlerweile nehmen wir uns solche Kommentare auch nicht mehr zu herzen. Und auch Simon hat gelernt, damit umzugehen. Er ist sogar so selbstbewusst, dass ihn das kaum noch interessiert. Es ist ihm egal, ob ihn jemand für einen Jungen oder ein Mädchen hält. Weil er weiß ja, wer er ist.

Ich hoffe, dass er in der Schule nicht gemobbt wird

Ein bisschen Sorgen mache ich mir, wenn er in die Schule kommt. Wegen Mobbing. Aber wir sprechen jetzt schon mit ihm darüber, dass es dann zu Konfrontationen kommen kann. Er hat den großen Vorteil, dass er mit Kindern in die Klasse kommt, die er schon kennt. Und die vor allem ihn so kennen, wie er ist. Ich denke, Simon wird schon klar kommen.

Als er an einem Tag wieder ein neues Kleid in den Kindergarten anzog und dafür freche Kommentare hörte, sagte er: “Ich will das Kleid aber trotzdem wieder anziehen, egal was die anderen sagen.” So nach dem Motto: Jetzt erst recht. Er hat eben auch einen Dickkopf.

Der Text wurde von Katharina Hoch verfasst.

*Namen geändert

TextKatharina Hoch
FotografieGetty
MediumHuffPost
Datum2018
Original PDF