Die Ursache von Depressionen geht auf fünf Erfahrungen aus der Kindheit zurück

Wie unter einer Glashaube.

Wie ein Gefangener.

Wie in einer Welt ohne Farben.

So oder so ähnlich beschreiben Menschen mit Depressionen, wie sich die Krankheit bei ihnen anfühlt. Eine Depression kann das Leben eines Menschen enorm einschränken. Allein in Deutschland leiden schätzungsweise vier Millionen Menschen an dieser Krankheit. Das sind 5,2 Prozent der Bevölkerung. Manche von ihnen zermürbt das Leiden so sehr, dass sie sich sogar das Leben nehmen. Doch warum erkranken manche Menschen an Depressionen und andere nicht?

Erlebnisse setzen sich in der Psyche fest

Die Ursachen sind vielfältig, da sind sich Forscher einig. Oft spielt erbliche Veranlagung eine Rolle. Aber auch körperliche Erkrankungen oder biologische Faktoren wie zum Beispiel die Umstellung des Hormonhaushalts nach der Geburt eines Kindes können Depressionen auslösen. Weitere Ursachen für eine depressive Erkrankung können Erfahrungen sein, die bereits in der Kindheit stattgefunden haben.

Diese Erlebnisse können sich in der Psyche eines Menschen festsetzen und später im Erwachsenenalter zu der Krankheit führen. Das bedeutet nicht, dass jeder, der solch eine schmerzhafte Erfahrung in der Kindheit gemacht hat, später auch eine Depression entwickelt. Denn jeder Mensch geht mit diesen Erlebnissen anders um. Außerdem lässt sich eine Depression oft nicht auf eine einzelne Ursache zurückführen. Meistens ist es eine Kombination aus verschiedenen Umständen.

Trotzdem können Eltern ein Bewusstsein dafür entwickeln, welche Erfahrungen in der Kindheit Depressionen begünstigen und diese bestenfalls vermeiden.

1. Die Mutter hat während der Schwangerschaft Alkohol getrunken

“Wenn die Mutter während der Schwangerschaft trinkt, können beim Kind viele Schäden entstehen”, schreibt Hans-Ludwig Spohr von der Berliner Charité, in einem Beitrag auf “dasgehirn.info”. “Wir Mediziner nennen diese Krankheit Fetales Alkoholsyndrom (FASD).”

Der Wissenschaftler und Arzt setzt sich seit über 40 Jahren für alkoholgeschädigte Kinder ein. Auch er kann aber noch nicht mit Sicherheit sagen, welche Mengen Alkohol einen Schaden bei Ungeborenen auslösen. Ein Glas Wein am Tag habe aber definitiv Auswirkungen auf das Kind, glaubt Spohr. Wenn das Kind tatsächlich an FASD erkrankt, hat das schlimme Folgen. Unter anderem kann es zu Fehlbildungen, Untergewicht oder Kleinwuchs kommen.

Aber nicht nur das. Besonders Jugendliche mit FASD seien überdurchschnittlich oft aggressiv und depressiv, weiß Spohr. Jedes Jahr kommen etwa 3000 bis 4000 Kinder mit Alkoholschädigungen zur Welt. Da sich Ärzte nicht sicher sind, inwiefern auch kleinere Mengen Alkohol dem Ungeborenen schaden, ist es am sichersten, während der Schwangerschaft komplett auf Alkohol zu verzichten.

2. Das Kind hat eine schwer belastende Erfahrung gemacht

Frühe traumatische Erlebnisse erhöhen das Risiko, an einer Depression zu erkranken. “Als traumatisierend werden im Allgemeinen belastende Ereignisse wie schwere Unfälle, Erkrankungen und Naturkatastrophen, aber auch Erfahrungen erheblicher psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt sowie schwere Verlust- und Vernachlässigungserfahrungen bezeichnet”, heißt es auf der Website der Deutschen Traumastiftung. “Sie können tiefe Wunden in der Seele hinterlassen, die einen Menschen das Leben lang beeinträchtigen.”

Eine Scheidung der Eltern, Mobbing, schlechte Eingewöhnung in Krippe oder Kindergarten oder der Tod eines Angehörigen können ebenfalls traumatisch sein. Jedes Kind kommt früher oder später mit traumatischen Situationen in Berührung. Problematisch wird es erst, wenn daraus eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entsteht.

“Eine unbehandelte PTBS kann später zu einer chronischen Depression führen”, sagt Alexandra Winzinger, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin. Deshalb sei es sehr wichtig, dass Eltern wachsam seien und erkennen würden, wann ihr Kind traumatisiert sei und möglicherweise eine posttraumatische Belastungsstörung entwickle, rät Winzinger. Nur so könne die Störung therapiert werden.

3. Das Kind hat keine sichere Bindung zu seinen Eltern aufgebaut

“Das Fundament einer glücklichen Kindheit ist die sichere Bindung”, schreibt die Erziehungsexpertin Susanne Mierau in ihrem Buch “Geborgen Wachsen”. “Sie entwickelt sich, wenn wir feinfühlig auf Signale eingehen, das Kind beachten und seinen unterschiedlichen Bedürfnissen nach Nähe, aber auch nach Autonomie nachkommen.”

Sicher gebundene Kinder entwickeln das sogenannte Urvertrauen. “Sie bildet die Basis für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung”, schreibt Mierau. Diese Kinder seien später meistens empathischer, flexibler, kreativer und ausdauernder.

Kinder hingegen, die nicht sicher gebunden sind oder gar Bindungsstörungen haben, sind eher ängstlich, übervorsichtig und unsicher. Instabil sei die Bindung dann, wenn auf die Bedürfnisse eines Kindes nicht ausreichend eingegangen werde, schreibt Mierau. Dazu gehört auch: Wenn sich Kinder auf ihre Bezugsperson nicht verlassen können und nicht ausreichend Schutz und Sicherheit erfahren.

Auch Gewalt oder Vernachlässigung führen zu einer unsicheren Bindung. Sie können aber auch Bindungsstörungen hervorrufen, die weitaus schlimmer sind und bei ungefähr einem Prozent aller Kinder in Deutschland vorkommen. “Wenn ein Kind eine unsichere Bindung oder eine Bindungsstörung hat, ist das ein Risikofaktor dafür, dass es später einmal an einer Depression erkrankt”, sagt Therapeutin Winzinger.

Eine stabile Bindung sei daher sehr wichtig, damit sich ein Kind gesund entwickeln könne, erklärt sie. “Sicher gebundene Kinder sind resilienter. Eine gute Bindung ist für jeden Menschen ein Schutzfaktor. Sie sorgt dafür, dass eine Depression nicht so schlimm wird oder sich gar nicht erst entwickelt.”

Auch wenn das Kind zu den Eltern eine instabile Bindung habe, reiche es manchmal schon, wenn andere gute soziale Kontakte bestünden, sagt Winzinger. “Kann das Kind zum Beispiel zur Nachbarin gehen oder zur Oma? Hat es ein Netzwerk? Hat das Kind also Anlaufstellen und kann somit andere Beziehungserfahrungen einholen als nur mit den Eltern, dann kann das schon einiges ausgleichen.”

4. Die Eltern leiden selbst unter Depressionen

“Wenn beide Elternteile depressiv sind, dann hat das Kind eine 70 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, auch an einer Depression zu erkranken”, sagt Winzinger. “Ich persönlich würde sogar sagen, dass die Zahl noch höher liegt.”

Das Risiko, an einer Depression zu erkranken, sei um drei- bis sechsfach höher, wenn die Mutter depressiv sei. Kein Wunder, schließlich ist sie die erste Bezugsperson und verbringt meist mehr Zeit mit dem Kind als jeder andere. Aber es hat einen ähnlichen Effekt, wenn der Vater depressiv ist und das Kind eine enge Bindung zu ihm hat.

“Die Kinder von depressiven Eltern entwickeln eine hohe Verletzbarkeit und eine geringe psychische Widerstandsfähigkeit”, sagt die Therapeutin. Und nicht nur das. Auch hier spielt die Bindung wieder eine Rolle, denn: “Eine psychisch kranke Mutter kann nur schwer eine sichere Bindung zum Kind herstellen”, sagt Winzinger. “Sie kann nicht so gut auf das Kind eingehen und nimmt Anzeichen oder Alarmsignale nicht so wahr, weil sie wie in einer Blase steckt.”

Doch es könne trotzdem gut ausgehen, sagt Winzinger. Wenn Mutter oder Vater nur eine depressive Phase hätten und das Kind trotzdem sicher gebunden sei, dann sei es eher davor geschützt, selbst zu erkranken. Oder: “Wenn der depressive Elternteil einsichtig ist und sich helfen lässt, sieht das Kind, dass die Eltern versuchen, mit der Krankheit umzugehen”, sagt sie.

Kindliche Aufklärung gegebenenfalls mit passender Literatur, könne dem Kind auch helfen. Außerdem sei es wichtig, dass das Kind ein Netzwerk habe, enge Bezugspersonen also, die nicht depressiv sind.

5. Die Eltern sind sehr ängstlich und überfürsorglich 

Auch der Erziehungsstil kann Schuld an einer später auftretenden Depression sein. So schreiben der Psychiater Wieland Macheidt und seine Kollegen in dem Buch “Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie”, ein überfürsorgliches Verhalten der Eltern könne im späteren Leben psychische Störungen zur Folge haben.

Auch Forscher der Bringham Young University stellten fest, dass Kinder von überfürsorglichen Eltern häufiger psychische Auffälligkeiten zeigen, Schwierigkeiten mit zwischenmenschlichen Beziehungen haben und in der Schule weniger engagiert sind.

Die Untersuchungen zeigten zudem, dass Schüler, die von ihren Eltern zu sehr unter Druck gesetzt werden, öfter zu risikohaftem Verhalten wie Alkohol- und Drogenkonsum neigen und ein schwaches Selbstwertgefühl haben. “Sich einzumischen und etwas für ein Kind zu tun, das es von seinem Entwicklungsstand her auch für sich selbst tun könnte, ist im allgemeinen Negativ”, schreibt Larry Nelson, Professor an der Bringham Young University, auf der Seite der Universität.

“Die überfürsorglichen sogenannten Helikopter-Eltern nehmen ihre Kinder in Schutz, wollen nicht, dass sie scheitern”, sagt Nora Volmer-Berthele, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Dieses Verhalten schade ihnen enorm. Dabei dürfe man aber eines nicht vergessen: “Eine Überbehütung an sich fördert eine Depression nicht.” Allerdings könne das Selbstwirksamkeitserleben dann geringer ausgeprägt sein. “Und das Gefühl ‘ich bekomme es selbst nicht hin’ kann ein früheres Auslösen der persönlichen Krankheitsphase möglicherweise begünstigen.”

Sie rät Eltern, Kinder altersentsprechend selbstständig werden zu lassen. Das bedeutet: sie Herausforderungen selbst angehen zu lassen und auch ein Scheitern – im altersentsprechenden Rahmen – mitzutragen. Eltern sollten ihrem Kind also vermitteln: Es ist in Ordnung, wenn du die Prüfung nicht bestehst. Es ist in Ordnung, wenn du im Sportunterricht nicht immer der Beste bist. Und es ist in Ordnung, wenn du nicht immer dein Ziel erreichst. Du bist gut, so wie du bist! Du wirst geliebt.

Für Kinder ist die Erfahrung zu scheitern, aber dann auch aus eigenen Kräften wieder aufzustehen, eine unglaubliche Bereicherung. Und die Voraussetzung für eine gesunde Psyche.

TextKatharina Hoch
FotografieGetty
MediumHuffPost
Datum2017
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